Nachtmeerfahrt

Rund hundert Menschen füllen den Raum. Eitle Menschen, voller Hoffnung. Alle wollen sie schreiben, sich mit einem Roman abheben vom traurigen Rest, von der ordinären Masse die nicht Kunst schafft, die sich tagtäglich in Großraumbüros oder schlimmeren Aufbewahrungsstätten ausbeuten lässt. Wer schreibt, der bleibt, so denken die doch, denke ich. Wozu so viele?

Sie reden zu laut und stehen mir ungeschickt im Weg. Sie bilden Gruppen, werfen einander Blicke zu, kichern, schauen an mir vorbei. Warum bin ich nie Teil einer solchen Gruppe? Weshalb gelingt mir das nicht, dieses unbeschwerte, leichtlebige Dasein? Ich zwänge mich durch die Menschentrauben, stoße mit meiner großen Umhängetasche Leute an, entschuldige mich, lächle.

Nach langem Gedrängel finde ich einen Platz, ganz hinten im Eck. Dann kommt sie. Klein, blond, ungeschminkt. Wir sehen uns an und wissen, wir sind anders, wir gehen den Dingen auf den Grund, wir halten die Wahrheit in Worten fest.

„Ist da noch frei?“, fragt sie und deutet auf den Stuhl neben mir. Ich nicke.

„Ich bin die Liliane“, sagt sie.

„Freut mich, Matrojschka“, sage ich und reiche ihr die Hand.

„Worüber schreibst du, Matrojschka?“, will sie wissen.

„Ich schreibe über die Liebe und das was wir dafür halten. Ich schreibe auch über das was wir zu wissen glauben, über das was wirklich ist und über das was sich dazwischen befindet“, sage ich.

„Das klingt spannend“, sagt Liliane, „liest du mir was vor?“.

„Gerne“, sage ich.

Liliane lehnt sich zurück. In ihrer Hand hält sie einen Rotstift. Ich lese laut vor.

 

Der Asphalt unter ihren Füssen war warm. Zwischen Antennen, Rauchfängen und Satellitenschüsseln bewegte sich Maria zum Rand des Gebäudes hinüber. Die Brüstungsmauer reichte ihr bis knapp über den Bauchnabel. Sie stützte die Hände auf der Mauer ab, lehnte sich zaghaft darüber und schaute nach unten. Luzius stand hinter ihr, legte seine Hände um ihre Hüfte, hielt sie, hob sie an, ließ sie über die Lichter der Stadt fliegen und wieder landen, auf dem Boden des Daches.

„Wow!“, sagte sie, und setzte sich auf die Mauer, ein Bein links, eines rechts. Er setzte sich hinter sie und strich über ihre Arme. Ihr Rücken ruhte an seiner Brust. Sie schaute seiner Hand zu, kräftig, nicht grob war die.

Er solle von seinem Job erzählen, bat sie ihn. Dass es um Auftragserfüllung gehe, unter Einsatz des Lebens, sagte Luzius und wie er es sagte, machte klar, dass der Satz für ihn keine leere Worthülse war. Dann schwieg er.

Entfernte Straßengeräusche klangen von unten herauf. Luzius nahm Marias Hände, strich langsam über deren Innenflächen, zeichnete jeden einzelnen ihrer Finger nach, von der Wurzel bis zur Kuppe. Beim mittleren Finger der rechten Hand hielt er inne. Was das für ein Ring sei, fragte er, da löste sie ihre Hände, löste sich von ihm, stand auf, trat von einem Bein auf das andere, streckte sich, ließ sich wieder zusammensinken, stützte ihre Arme in der Taille ab und sah ihn mit schräg gelegtem Kopf an.

Die kurzgeschorenen Haare ließen seine markante Nase noch weiter hervortreten, seine Ohren lagen eng an, die Stirn war zerfurcht, den Schläfen entlang zogen sich gepflegte, grau melierte Kotletten, die sich unter dem schmalen Mund zu einem spitzen Bart trafen. Sein T-Shirt spannte auf Brusthöhe, der breite Hals trennte das Gesicht vom Rest des Körpers. Sie suchte seinen Blick, stellte fest, wie auch er mit den Augen ihren Körperkonturen nachzeichnete, spürte die Gier, die darin lag. Luzius …

 

„Entschuldige“, sagt Liliane, „aber Körperkonturen ist ein Wort, das beim Aufkommen von sexueller Stimmung nicht zuträglich ist, gepflegte Kotletten ebenso wenig und dass der Hals den Kopf vom Körper trennt wirkt zu hart, da solltest du dir eine andere Formulierung überlegen.“ „Hm“, sage ich. „Aber lies mal weiter“, lenkt sie ein.

 

Luzius lehnte sich zurück, fingerte eine Packung Reyno aus seiner Hosentasche, ehe er sie aufriss, klopfte er damit fünf Mal auf seine Handfläche. Mit Zähnen und Lippen zog er eine Zigarette heraus und zündete sie an. Die orange Glut passte sich gut ein, in die Nacht ringsum. Maria war Nichtraucherin, militante, jetzt bat sie ihn um eine Zigarette. Er sog tief ein, sie nur oberflächlich. Sie …

 

„Matrojschka, glaubst du wirklich, dass eine militante Nichtraucherin einfach so rauchen würde und dann erst noch Mentholzigaretten?“ unterbricht Liliane mich schon wieder. „Ja“, sage ich, vielleicht ein wenig lauter als beabsichtigt, „ich weiß ganz gut wovon ich hier schreibe, das darfst du mir glauben“. Ich lese weiter.

 

Sie mochte den Geschmack von Rauch nicht und den Geruch noch weniger, aber ihr gefiel das Bild des Rauchens, die Lässigkeit und Eleganz, wenn man die Zigarette zum Mund führte und langsam Rauchschwaden nach oben blies.

Ein leichter Nieselregen setzte ein. Luzius verstaute den Zigarettenstummel in einer silbernen, Dose, klappte sie zu und steckte sie ein. In diesem Moment verdichtete sich der Regen. Marias Haare wurden nass. Ob sie runter wolle, fragte er. Sie schüttelte den Kopf, ging auf die Brüstung zu, drückte die halbe Reyno aus.

Ein fast voller Mond stand am Himmel, in der Tiefe glitzerten die Lichter der Stadt. Sie spürte ein Ziehen im Brustkorb. Sie glaube nicht an die Liebe, hörte sie sich selbst sagen. Luzius lachte. Sein Lachen war klar und hell, es klang ein wenig so wie Glas, wenn es zerbricht. Sie sah ihn an, auf seiner linken Backe bildete sich ein Grübchen. Nein, Maria glaubte nicht an die Liebe, nicht mehr, sie …

 

„Verzeih“, sagt Liliane, „ aber wenn du von Liebe schreibst musst du schon ein wenig differenzieren.“

„ Jetzt lass mich doch erst mal fertig lesen“, sage ich und bin mir sicher, dass mein erster Eindruck von ihr falsch gewesen ist.

„Weißt du“, sagt sie und ignoriert meinen Einwand, „ich kenne diese brennende, verzehrende, romantische und sexuell drängende Liebe. Ich habe die nämlich selbst schon erlebt, so fest, dass ich es kaum noch ausgehalten habe.“

„Du verwendest zu viele Adjektive“, sage ich, doch Liliane unterbricht mich schon wieder. „Er war sechs Jahre jünger als ich. Niemals zuvor und nie wieder nachher habe ich mir die Aufmerksamkeit von einem Menschen so sehr gewünscht. Gedichtet habe ich und Tagebuch geschrieben und Briefe. Bis vor seine Türe bin ich gereist. Diese Liebe, Matrojschka, die ist, die passiert, die haut dich um, der kannst du dich nicht entziehen. Da einfach mal nicht daran glauben, das funktioniert doch nicht.“

Erst jetzt bemerke ich, wie sehr die tiefschwarze Brille auf ihrer feingliedrigen Nase stört. Ihre blonden Haare, das blasse Gesicht werden aufgefressen von diesem monströsen Augenwerk. Sie kaut an ihrem Rotstift.

„Ja, ja“, sage ich, „Wir lieben, was wir glauben und glauben was wir lieben.“ Lilianes Blick schweift ab, der Rotstift fällt zu Boden. Sie bückt sich nach ihm, ich lese weiter.

 

 

 

Die Fortsetzung dieser Geschichte gibt es auf Anfrage.

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0