"Die Liebe" - eine Spurensuche

"Diese romantische Liebe, die uns über uns selbst hinauswachsen, uns leben, stark und schwach sein, freuen, genießen, sprießen und träumen lässt, all das nur ein Mix aus körpereigenen Aufputschmitteln und unerfüllten Bedürfnissen? Ein schnell vergänglicher Rausch, ein beliebiger Container, eine Höllenmacht und eine schwere Krankheit?"

  

© Stella Stejskal
© Stella Stejskal

 

Die Liebe, schreibt der Schriftsteller Novalis bereits im 17. Jahrhundert, dem Zeitalter der Frühromantik, ist der Endzweck der Weltgeschichte, das Amen des Universums. Ob er damit meinte, dass jeder Topf seinen Deckel findet? Den passenden versteht sich, die zweite Hälfte zur ewig währenden Vervollständigung des platonischen Kugelmenschen. Dank Internet ist diese Suche nach der zweiten Hälfte heutzutage auch viel einfacher geworden. Liebe ist kein Zufall meint das Marketing einer bekannten Partnervermittlungsagentur und wenn dieser Deckel oder Topf (je nachdem) dann gemäß der Fügung unseres Lebens gefunden wurde und sich herausstellen sollte, dass die geliebte Person unter alltäglichen Umständen möglicherweise doch nicht der einzige Schlüssel zum Lebensglück sein könnte, wird eben weitergesucht. Bedürfnisse sind schließlich hier um befriedigt zu werden und Gefühle entstehen nun mal durch Bedürfnisse, das wusste schon Schoppenhauer.

 

Polyamorie, serielle Monogamie, Ehe lightPatchwork Familien, Co-Parenting, Beziehungsanarchie, Sologamie, die Vielfalt an Beziehungsmodellen für die Liebe scheint hier und heute schier endlos und diese unendliche Beziehungsfreiheit, die sehr häufig in einem unendlichen Suchen resultiert, stellt gemäß dem Autor und Liebesskeptiker Sven Hillenkamp das Ende der Liebe dar. "Die Idee der Liebe wird durch keine andere Idee, keine Struktur mehr beschränkt. Sie ist absolut und unbegrenzt. Die Liebe verschwindet im Moment ihres historischen Triumphs “ , behauptet Hillenkamp in seinem Buch. Netter Soundbite, nur was meint er eigentlich damit, was genau ist denn überhaupt diese Liebe, die hier offensichtlich vom Aussterben bedroht ist? Ich begebe mich auf eine Spurensuche und befrage erstmal Google, das Orakel des digitalen Zeitalters. Weiß gesagt werden mir ungefähr 118'000'000 Ergebnisse in 0.31 Sekunden. Nach einer Durchsicht der ersten zehn steht fest: Eine einheitliche Definition gibt es nicht. Auf wasistliebe.ch finde ich eine griffige Erklärung: Liebe ist ein Container, jeder packt hinein, was er will. Paul Feyerabend lässt grüßen – anything goes? 

 

Die Liebe ist eine Höllenmacht, wiederum findet Herr Köppel in einem umstrittenen Editorial der Weltwoche und meint damit die Qualen, die der erfolglos begehrende Mann durchleidet. Begründen tut er das folgendermaßen: Es gibt zwischen Männern und Frauen ein Naturgesetz: Der Mann muss die Frau begehren. Die Frau wiederum lebt davon, dass der Mann sie begehrt. Die Macht der Frau ist das Begehren des Mannes. Männer sind codiert, Frauen zu begehren. Frauen sind mit Kräften ausgestattet worden, das Begehren im Mann zu wecken. Na bitte, soll noch eine behaupten wir würden im Patriarchat leben, sogar Herr Köppel hat die Macht der Frau erkannt, aber ich schweife ab. Zurück zur Liebe, die – so viel weiß ich jetzt – in ihrer Begrifflichkeit einen leeren Container darstellt der beliebig gefüllt werden kann und zeitgleich als Höllenmacht gefürchtet wird.

 

Während ich diese Zeilen tippe, hört meine Siebenjährige Disneys Bambi auf Audio CD. Dem heranwachsenden Rehkitz wird dort suggeriert, dass zum Erwachsenwerden auch Frühlingsgefühle und Schmetterlinge im Bauch gehören und, dass selbige ein Charakteristikum für die Liebe darstellen würden.  Sieh an, Walt Disney hat die Antwort und sie liegt in unseren Hormonen. Die viel zitierten Schmetterlinge im Bauch, die (wenn sie sich nicht auf eine Magenverstimmung zurückführen lassen) im Allgemeinen als sicheres Zeichen einer aufkeimenden Verliebtheit gedeutet werden, sind unterm Strich und biochemisch betrachtet nämlich ein simpler Hormoncocktail (Serotonin, Östrogen/Testosteron, Oxytocin, Dopamin),  gekoppelt an ein wenig Projektion eigener Bedürfnisse und der daraus resultierenden Bewunderung für das Subjekt der Begierde. Demnach wäre die Liebe eine induzierte Geisteskrankheit mit folgenden Symptomen: Atemnot, Herzrasen, Halluzinationen und der Liebestaumel lediglich ein evolutionsbiologischer Prozess mit dem einzigen Zweck, den Fortbestand unserer Spezies zu sichern (einer Spezies, die ihre eigene Lebensgrundlage auf diesem Planeten unaufhaltsam zerstört, aber das ist wieder ein anderes Thema). Freilich könnten wir ihn unterdrücken, diesen Rauschzustand, ihn meiden wie andere Rauschmittel auch. Wir sind nämlich Menschen und als solche glauben wir gerne alles zu können, wenn wir nur wollen (Yes, we can!).  Andererseits,  welches durstige Lebewesen, das seinen Weg suchend durch die Wüste irrt, würde einer Fata Morgana ausweichen? Stets besteht die Hoffnung, diesmal wäre es eine Oase, die Oase der Liebe. Sehnsucht nach Liebe, schreibt Bodo Kirchhoff, ist die einzige, schwere Krankheit mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam. Unser eigener Körper hat uns da konditioniert wie die Pawlowschen Hunde, damit wir sie fortwährend suchen und anstreben die Liebe,  in Form von Anerkennung, Bestätigung, Aufmerksamkeit und Zuneigung. Schon als Neugeborene suchen wir sie und je weniger wir davon als Baby, Kind und Heranwachsende erhalten haben, desto mehr verlangen wir später danach, meinen die Psychoanalytiker.

 

Diese romantische Liebe, die uns über uns selbst hinauswachsen, uns leben, stark und schwach sein, freuen, genießen, sprießen und träumen lässt, all das nur ein Mix aus körpereigenen Aufputschmitteln und unerfüllten Bedürfnissen? Ein schnell vergänglicher Rausch, ein beliebiger Container, eine Höllenmacht und eine schwere Krankheit? Nein! Unmöglich! Also anderswo mag das ja zutreffen, aber hier in der Schweiz, der sicheren Insel im Herzen Europas, hier wo alles Bestand hat, hier im Land der Versicherungen und Rückversicherungen, dem Ort wo der Mensch den Verlust seines Arbeitsplatzes mehr fürchtet als den seines Lebens (wohl, weil er für letzteren Fall eine Lebensversicherung abgeschlossen hat?), wie uns das alljährliche Sorgenbarometer gern vor Augen führt, hier muss die Liebe mehr sein als das oder zumindest sicherer.

 

Die Siebenjährige hört immer noch Bambi, der Fünfjährige meint indes, er möchte bestimmt keine Schmetterlinge im Bauch haben und Raupen schon gar nicht. Niemals. Ich sinniere über die Liebe und trete vor die große Bücherwand. Ein Buch fällt heraus, wie von Zauberhand geführt, mir direkt vor die Füße. Verdutzt  schlage ich es irgendwo in der Mitte auf und beginne laut zu lesen:

 

"So beginnt die Geschichte der zärtlichen Vertrautheit damit, dass man immer mehr von dem anderen wissen, erfahren und erkennen möchte, (…). Je länger die Suche nacheinander, dieses Zähmen des anderen, diese reifende Vertrautheit der Liebe währt, desto beziehungsreicher verschmilzt die Erinnerung des gemeinsamen Erlebens und die Poesie der Zärtlichkeit …" (Eugen Drewermann).

 

Der Fünfjährige kommt auf mich zugestürmt, „Mami ich wünsch mir ein megagroßes Feuerwehrauto zu Weihnachten", sagt er. Ich lege das Buch zur Seite, umarme ihn fest und flüstere ihm ins Ohr: "So ein Feuerwehrauto kostet Geld. Dein Papi und ich müssten mehr arbeiten um dieses Geld zu verdienen und dann hätten wir weniger Zeit für dich. Verstehst du das?". Er schüttelt den Kopf. Ich ergänze: "Überhaupt ist es doch viel schöner sich Dinge zu schenken, die man nicht kaufen kann, wie zum Beispiele Liebe."  "Was ist Liebe?", will er wissen, während die Siebenjährige von CD auf Radio wechselt und die Berner Mundart Band Züri West lautstark in unserem Wohnzimmer singt: "I wott schlafe – i wott stärbe mit dir wott i aut u fett u glücklech wärde“. "Liebe“, sage ich ihm, "das ist füreinander da sein, aufeinander bauen, versuchen einander zu verstehen und so.“ Er erwidert meine Umarmung. "Kann nicht das Christkind arbeiten gehen für mein Feuerwehrauto? Ich liebe nämlich Autos, verstehst du das?“, sagt er dann. 

 

"Amen“, sage ich und denke an Novalis, während Kuno Lauener im Radio von Mel C. abgelöst wurde, die mit lieblicher Stimme melodisch trällert: Hey what you're looking for? No one has the answer – we just want more.“